Redebeitrag von der Mahnwache am 27.3.2025 am Stolperstein von Kurt Dorr vor dem Dortmunder Rathaus
Der folgende Text über das Leben von Kurt Dorr ist von Dr. Frank Ahland und Manuel Izdebski, beide aus Dortmund, den sie am 14. September 2018 verfasst haben, einen Tag vor Verlegung des Stolpersteins für Kurt Dorr.
Über das Leben von Kurt Dorr ist wenig bekannt. Wir wissen, dass er am 19. April 1909 im westpreußischen Marienwerder geboren wurde. Wann er ins Ruhrgebiet kam, ist nicht überliefert.
Im Jahre 1937 muss sich Kurt Dorr, der zu diesem Zeitpunkt noch in Bochum am Moltkemarkt 11 als Arbeiter gemeldet war, in Dortmund aufgehalten haben. Durch die Haftbücher des Polizeigefängnisses Steinwache ist belegt, dass er am 22. Februar 1937 wegen Umhertreibens, Paragraf 175 und wegen Mordverdachts festgenommen wurde. Bereits drei Tage später erfolgte seine Haftentlassung. Mit dem Mordvorwurf kann es deshalb nicht weit her gewesen sein, vermutlich diente ein Obdachloser als willkommener Sündenbock für eine solche Tat. Das entsprach dem Kriminalitätsverständnis des Polizeiapparates nicht nur während des Nationalsozialismus.
Eineinhalb Jahre später geriet Kurt Dorr erneut in die Fänge der Polizei. Seine zweite Verhaftung erfolgte am 4. Juni 1938 um 2 Uhr in der Nacht. Zwei Beamte der Dortmunder Sitte hatten ihn mutmaßlich an einem der bekannten Schwulentreffpunkte in der Stadt aufgegriffen. Der Vorwurf lautete „Verdacht § 175 und Bettelei“.
Als Obdachloser passte Dorr in die Aktion „Arbeitsscheu Reich”, in deren Rahmen durch die Kriminalpolizei auf Basis des „Grunderlasses zur Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung” vom 14. Dezember 1937 im April und Juni 1938 mehr als 10.000 Männer als sog. Asoziale in Konzentrationslager verschleppt wurden. Als Asoziale trugen sie im KZ den schwarzen Winkel.
Nach 18 Tagen in der Steinwache wurde Dorr am 22. Juni 1938 „transportiert”, wie es in den Haftbüchern heißt. Im KZ Sachsenhausen bekam er die Häftlingsnummer 5482 und wurde in die NS-Haftkategorie „Asozial“ eingruppiert. Am 25. Januar 1940 wurde er von Sachsenhausen ins österreichische KZ Mauthausen verbracht. Dort bekam er die Häftlingsnummer 2090 und wurde der NS-Haftkategorie AZR [Arbeitszwang Reich] zugeordnet.
Keine vier Wochen später war er tot. Kurt Dorr starb am 17. Februar 1940, nur kurze Zeit vor seinem 31. Geburtstag. Als offizielle Todesursache wurde „Allgemeine Schwäche, Herz- und Kreislaufschwäche” angegeben, doch das ist – wie wir vermuten dürfen – nicht die Wahrheit.
Als „Asoziale“ bezeichneten die Nationalsozialisten gesellschaftliche Außenseiter*innen oder wie sie es nannten „Gemeinschaftsfremde“. Dazu gehörten Wohnungslose, Umherziehende, Prostituierte, Menschen mit ansteckenden Geschlechtskrankheiten, Trunksüchtige, Arbeitsscheue, Arbeitsverweigerer, Sinti und Roma, Homosexuelle, Kleinkriminelle und vorbestrafte Juden.
Ein von der Norm abweichendes Verhalten wurde als gesellschafts- und staatsfeindlich deklariert. Soziale Not galt als Indiz für eine erbliche Minderwertigkeit, was bei diesen Menschen schon ab 1933 häufig zu Zwangssterilisationen mit der Diagnose „angeborener Schwachsinn“ führte.
Da behauptet wurde, dass „Verbrechertum“ seine Wurzeln im „Asozialen“ habe und sich fortlaufend aus ihm ergänze, sollten Justiz, Gestapo und Kriminalpolizei dagegen vorgehen.
Am 5. August 1933 konnte man in der Dortmunder Zeitung lesen: „Dortmund hat das erste Rasseamt der Welt“. Den Sinn und Zweck erklärte sein Leiter „Pg. Dr. med. Brauß“: „So werde ein Gesetz die Mischehen zwischen Ariern und Nichtariern verbieten und unter Strafe stellen, auch die Sterilisierung der Erbbelasteten, erblich Kranken, sozial und rassistisch Minderwertigen und der Volksschädlinge und Verbrecher werde gesetzlich verankert werden. Es gehe nicht an, dass Menschen mit asozialen Erbanlagen sich fortpflanzten …“. Das war bereits ein halbes Jahr nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten.
Die erste große reichsweite Verhaftungswelle gegen Bettler*innen und Wohnungslose erfolgte bereits im Oktober und November 1933 mit handfester Unterstützung der Wohlfahrtsverbände. In Dortmund waren es über 70 Personen, die in der Steinwache inhaftiert wurden. In den Dortmunder Zeitungen wurden fast täglich ihre Namen, ihr Alter, ihr Geschlecht, ihr Wohnsitz und wo sie aufgegriffen wurden öffentlich kundgegeben. Alle Dortmunder*innen sollten es wissen: der neue Staat machte gegen die sog. Asozialen mobil! Der Hass auf Arme und Nicht-Arbeitende, auf diejenigen, die sich angeblich verweigern und nicht mitmachen, war weitverbreitet.
Heute ist in Vergessenheit geraten, dass Landstreicherei, Bettelei, Arbeitsscheu und Obdachlosigkeit einst Straftaten waren, die mit dem Paragrafen 361 des Strafgesetzbuches in seiner Fassung aus dem Jahre 1871 geahndet wurden. Das Gesetz wurde 1933 von den Nationalsozialisten verschärft und blieb bis zur großen Strafrechtsreform im Jahre 1969 auch in der Bundesrepublik erhalten. Gänzlich wurde der Paragraf 361 StGB erst im Jahre 1974 gestrichen.
Kommunen versuchen bis heute, durch Ortssatzung das Betteln unter Strafe zu stellen, etwa für den Bereich ihrer Fußgängerzonen, was ja vor kurzem auch die CDU in Dortmund mit Bettelverbotszonen durchsetzen wollte. In Dortmund wird aber das sogenannte „aggressive“ Betteln verfolgt, da es das subjektive Sicherheitsempfinden beeinträchtigen würde. Wir halten Betteln für eine Konfrontation mit Armut, die vielleicht Unwohlsein hervorrufen kann, aber zumutbar ist. Wenn ich jemandem hinterherrenne und ihn festhalte, ist das Nötigung, dafür braucht man kein Bettelverbot. Bettelverbote stigmatisieren am Ende einfach immer nur bettelnde Menschen.
Aufbauen konnten die Nazis – wie schon gerade gesagt – auf dem Paragrafen 361 des Strafgesetzbuches von 1871, der immer wieder ergänzt wurde. Im § 370 vom 6.2.1930 wurde vom Strafrechtsausschuss des Reichstages angenommen: „Wer aus arbeitsscheuender Liederlichkeit bettelt, wird mit Gefängnis bis zu 6 Wochen bestraft.“ Und der § 372 bestimmte: „Wer mittellos aus Arbeitsschau oder aus Hang zum ungeordneten Leben im Lande umherzieht oder sich fortgesetzt an einem
Orte und ohne festes Unterkommen umhertreibt, wird mit Gefängnis bis zu 6 Wochen bestraft.“
Dazu wurde die öffentliche Meinung in den Medien gegen die Menschen gemacht, die auch schon in dieser Zeit als Asoziale diffamiert wurden. So hieß es im vom Wohlfahrtsamt herausgegebenem Do.Wohlfahrtbl. Ausgabe 3 von 1929: „Die Erfahrung hat gezeigt, dass sich nur ganz vereinzelt wirklich Bedürftige unter den Bettlern befinden, die überwiegende Mehrheit setzt sich aus Gewohnheitsbettlern und Arbeitsscheuen zusammen. … Hier ist Mitleid am falschen Platz.“
Die Nazis bedienten sich dieser Hetze und der Paragraphen und setzten diese einfach nur extremer um: In einem Aufruf des Polizeipräsidenten, des Winterhilfswerk und des Wohlfahrtsamts in der Dortmunder Zeitung hieß es am 7. Oktober 1933: „Bekämpft das Bettelunwesen! … Mitleid und Mildtätigkeit sind hier nicht am Platze. Wir müssen soweit kommen, dass die Bettelei vollkommen ausgetilgt wird. … Jeder Volksgenosse, der die Bettler noch unterstützt, betätigt sich staatsfeindlich. Er muss gewärtig sein, dass gegen ihn im Rahmen der geltenden Gesetze vorgegangen wird.“
Und in der Dortmunder Zeitung vom 16.7.1937 hieß es: „Weise Bettler nicht von deiner Wohnungstür, bringe sie auch – wenn möglich – zur Anzeige. Bettler können heute nicht mehr geduldet werden.“
Den Höhepunkt der Verfolgung bildete die von den Nationalsozialisten organisierte Aktion „Arbeitsschau Reich“, der auch Kurt Dorr zum Opfer fiel. Unter dem Deckmantel der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung sollten durch Grunderlass des Reichsinnenministeriums sog. Asoziale verhaftet und in Konzentrationslager deportiert werden, also ohne Prozess, ohne richterlichen Beschluss, ohne Begehen einer konkreten Straftat oder ähnliches. Im Rahmen von zwei Verhaftungswellen im April und Juni 1938 fielen über 10.000 Männer der Aktion zum Opfer. Auch in Dortmund beteiligten sich die Polizeibehörden mehr als rege, um geforderte Soll-Zahlen bei den Verhaftungswellen überzuerfüllen; in der Steinwache wurden etwa 300 Menschen aus Dortmund und Umgebung inhaftiert, von denen die meisten kurz darauf nach Sachsenhausen und Buchenwald transportiert wurden. In den Konzentrationslagern waren die Häftlinge dann an ihrem schwarzen Winkel zu erkennen.
Bis heute werden die Schicksale dieser als asozial denunzierten Menschen im Nationalsozialismus ignoriert, verleugnet oder übergangen. Das hat auch viel mit den Kontinuitäten im Hass auf diese Gruppe zu tun. Asozial ist bis heute ein weitverbreitetes Schimpfwort, Sozialdarwinismus weiterhin allgegenwärtig und Obdachlose sind wenig beachtete Opfer rechter Gewalt und die Konstruktion des „Asozialen“ ein fester Bestandteil rechter Ideologie.
Von CSU-Abgeordneten wurde im Bayrischen Landtag im Oktober 1948 ein Antrag eingebracht und einstimmig von allen Fraktionen angenommen, das ehemalige KZ Dachau als „Arbeitslager für asoziale Elemente zu nutzen“. Im Protokoll heißt es: „Die bisherige Methode des Einsperrens nütze nichts. Dagegen könne den Betreffenden in Arbeitslagern das Arbeiten beigebracht werden. Der Mitberichterstatter verwies vor allem auf die Bedeutung von Arbeitslagern als Stätten der Umerziehung von arbeitsscheuen Elementen hin zu willig arbeitenden Menschen.“ Nur ein Sachzwang verhinderte die Reintegration des KZ als Pflichtarbeitslager in die Bundesrepublik, da man hier Flüchtlinge unterbringen musste und das Lager mit 5 Millionen DM in ein Wohnlager umgebaut wurde. Bis weit in die 2000er Jahre wurde die Einweisung von Kriminellen bzw. Asozialen in Konzentrationslager nicht als Unrecht wahrgenommen, sondern allenfalls als zu hohes Strafmaß bewertet. Deshalb erschien die Einweisung in die Lager mittels polizeilicher Maßnahme weniger als spezifisches Instrument des nationalsozialistischen Staates, sondern vielmehr als Fortsetzung einer an sich gerechtfertigten Maßnahme.
Erst im Februar 2020 gab es einen Beschluss des Bundestages zur Anerkennung der Menschen, die wegen angeblicher „Asozialität“ und „Berufsverbrechertum“ verfolgt wurden.
Schon im Jahr 1946 gründeten Überlebende, ehemalige Häftlinge, mit grünem und schwarzem Winkel aus dem KZ Dachau einen Verein: „Die Vergessenen“. Nach wenigen Monaten wurde der Verein von der US-Militärregierung verboten. Es wurde angenommen, dass die beiden Opfergruppen zu Recht inhaftiert gewesen seien.
Jetzt, im Jahr 2023, gründeten Angehörige wieder eine Organisation, die der beiden Opfergruppen gedenken soll: der Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus. Der neue Verband setzt sich dafür ein, dass der Bundestagsbeschluss von 2020 vollständig umgesetzt wird: die Förderung von Forschungsarbeiten zu Verfolgtenbiografien sowie zu den Instanzen der nationalsozialistischen Verfolgung.
Mit dem Stolperstein für Kurt Dorr, der am 18. August 2018 verlegt wurde, wird in Dortmund erstmals an die Opfergruppe der sogenannten Asozialen erinnert. Es wird Zeit, dass wir uns auch endlich diesen Teil unserer Geschichte aneignen, nicht nur, weil wir es den Opfern schuldig sind, sondern damit wir allen Bestrebungen und Ideologien, die Menschen als asozial aus unserer Gesellschaft ausgrenzen wollen, entschieden entgegentreten können. Engagieren wir uns für eine Gesellschaft, in der die Würde aller Menschen tatsächlich unantastbar ist!